Oder: »Wie Mainz Gefahr läuft, seine Megachance zu vertrödeln!«
Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt nach dem Krieg ist untrennbar verbunden mit wichtigen Ansiedlungen. Die Einrichtung des Hauptsitzes von Schott 1952, die IBM 1965 (heute leider aufgelöst), Aufbau des ZDF ab 1970 waren Meilensteine. Aber seitdem ist irgendwie die Luft raus mit neuen Schwergewichten – bis plötzlich, fast aus dem Nichts, aus der fruchtbaren Kooperation von Universität, Uniklinik, TRON und der Genialität weniger Wissenschaftler mit der Hilfe externer Investoren (Gebrüder Strüngmann) ein neuer »Stern« erscheint, Biontech. Die Mitglieder der Stadtspitze kneifen sich seit 2-3 Jahren jeden Morgen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumen. Auf die chronisch klamme Stadt regnen plötzlich jährlich Hunderte Millionen € Steuereinnahmen herab.
Biontech setzt auf einen starken Partner
Gegründet erst 2008 von Ugur Sahin, Özlem Türeci und Christoph Huber zur Entwicklung individualisierter Krebstherapien, gelang der Durchbruch mit der Entscheidung 2019, auf der Basis der mRNA-Technologie Impfstoffe gegen COVID-19 zu entwickeln – mit unglaublicher Schnelligkeit und klinischem Erfolg. Der Jahresumsatz schnellte auf sagenhafte 22 Mrd. $ in 2021 (in 2022 werden 16-18 Mrd. $ erwartet). Dieser Erfolg wäre nicht möglich gewesen ohne die breite Entwicklungs- und Vertriebs-Kooperation mit einem Schwergewicht der globalen Pharmaindustrie, Pfizer Corp. USA. Und damit wird das beschauliche Mainz über Nacht in die raue Welt der großen Pharmakonzerne katapultiert und muss sich erschrocken den Marktgegebenheiten stellen, die dort erwartet werden.
Pfizer, ein Schwergewicht der globalen Pharmaindustrie
Um die Charakteristika der weltweiten Pharmaindustrie zu verstehen, lohnt sich daher ein kurzer Blick auf Biontechs wichtigsten Partner. Gegründet 1848 in den USA von den deutschen Einwanderern Karl Pfizer und Karl Erhart wuchs die Pfizer Corp. durch stetige Entwicklung neuer Medikamente, aber vor allem durch Fusionen und Akquisitionen: z.B. Mack Illertissen/Deutschland, SKB/England, Warner Lambert/USA, Pharmacia/Schweden, Wyeth/USA uvam. Oftmals galten diese Akquisitionen nur wenigen vielversprechenden Produkten und machten Pfizer damit zu einem der schnellst wachsenden Pharmaunternehmen der Welt. Die Kooperation mit Biontech (seit 17.03.2019) zum COVID-19 Impfstoff (Comirnaty) brachte Pfizer im Jahr 2021 auf die Position 2 der weltweiten Pharmaunternehmen (Umsatz 81 Mrd. $, davon allein mit Comirnaty 37 Mrd. $). Der mit Biontech entwickelte Impfstoff ist damit essenziell für Pfizers weitere strategische Entwicklung. Die Marktkapitalisierung von Pfizer liegt lt. Börsenkurs jetzt bei ca. 250 Mrd. $ – ein Gigant.
Kooperationen mit erfahrenen Partnern als Schlüssel
Auf der Basis seiner patentierten mRNA-Technologie hat Biontech eine ganze Reihe von Entwicklungs-Kooperationen mit den »Who is who?« der Pharmawelt laufen: mit Sanofi, Eli Lilly, Bayer, Roche/Genentech, Pfizer, um nur einige zu nennen. Eine beeindruckende Zahl von vielversprechenden Produktkandidaten, besonders Krebsimmuntherapeutika und Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten, befindet sich in fortgeschrittenem Entwicklungsstadium. Der unglaubliche Vermarktungserfolg der COVID Impfstoffe hat Biontech selbst auch mit einem Umsatz von 22 Mrd. $ in 2021 auf Position 18 der weltweiten Pharmaunternehmen geschossen (Der weltweite Vertrieb läuft größtenteils über Pfizer, von dem Biontech die vertraglich vereinbarten Comirnaty-Ertragsanteile erhält.). Der aus der Comirnaty Vermarktung resultierende »Net Profit« (allein in 2021 > 10 Mrd. $) gibt dem Unternehmen unglaubliche Möglichkeiten, weiter in Forschung/Entwicklung, den Ausbau seiner Belegschaft und die Produktionsstätten (neben Mainz in Marburg, Idar-Oberstein, Gaithersburg/USA, Singapur u.a.) zu investieren. Millionen von Impfdosen wollen schließlich in entsprechend qualifizierten und zertifizierten Werken produziert und ausgeliefert werden. Und hier kommen die Chancen und Risiken für den Hauptsitz in Mainz ins Spiel.
Den Anforderungen eines globalen Pharmastandorts gerecht werden!
Voll erschlossene Bebauungsflächen, Tausende hochqualifizierte Mitarbeiter, eine funktionierende Infrastruktur, spezialisierte Bau- und Dienstleistungsunternehmen, verlässliche und kompetente Zulieferbetriebe, erfahrene Zertifizierer für Betriebsinspektionen, hochwertige Wohnungen, KiTas und gut ausgestattete Schulen aller Stufen uvam. wird gebraucht – heute, nicht morgen! Sonst schaut man sich nach anderen Standorten um – und Biontechs Partner, bes. Pfizer, wissen, wie das geht. Sehr plastisch beschreibt das der Heidelberger Biotechnologie-Clustermanager Christian Tidona in seinem AZ-Beitrag vom 3.9.2022 »Macht Mainz zu wenig, um Biotech-Hochburg zu werden?« »Wenn es aber nicht gelingen sollte, das Umfeld von Biontech in ein biotechnologisches Cluster mit weltweiter Strahlkraft weiterzuentwickeln, kann sich so ein Börsenunternehmen ganz schnell in Richtung anderer Forschungsstandorte orientieren…Ich würde Biontech mit einem Steinway-Konzertflügel vergleichen…. Der Steinway braucht aber ein ganzes Orchester.«
Biotechnologie als Chance für Rheinland-Pfalz
Die rheinland-pfälzische Landesregierung beginnt langsam zu verstehen, welches Juwel und Momentum sie hier in die Hand bekommen, um die Biotechnologie und Gesundheitswirtschaft als Schwerpunkt-Geschäftsfeld bes. für die Rhein-Nahe-Region voranzubringen. Der Ausbau der Molekularen Biologie/Mikrobiologie und die Ansiedlung des Helmholtz-Instituts an der Universität, die Entscheidung zum Ausbau und umfassenden Modernisierung der Unikliniken, die Bestellung eines kompetent besetzten Biotech-Beirats und die Ausweisung des Geländes am Europakreisel sind wichtige generelle erste Schritte und Signale.
Aber sie bringen kurzfristig wenig für die weitere rasche Umsetzung des Geschäftskonzepts von Biontech an seinem Hauptsitz Mainz. Hierfür braucht es:
- Einen klaren städtebaulichen Vertrag für einen pharmazeutischen Großbetrieb inmitten der Stadt, der Rechte und Pflichten sowohl des Unternehmens wie auch der anliegenden Wohnviertel regelt (Lärm- und Geruchsemission, Verkehrs- und Zufahrtsregelung uvam.), damit man nicht in einen ähnlich unerquicklichen Rechtsstreit läuft wie seinerzeit zwischen den alteingesessenen Betrieben von Römheld & Moelle und Schott mit Stadt/Stadtwerke/Investoren bei der Zollhafenbebauung.
- Ein deutlich schlagkräftigeres »ermächtigtes« Projektmanagement als die kleine Truppe des ZBM = Zentrale Beteiligungsges. der Stadt Mainz. (=> Ende November entschied endlich der Finanzausschuss die Einrichtung der Gesellschaft »Biomindz«, in der diese Projektgruppe aufgehen und die Biotechnologie voranbringen soll. Ein erster Schritt, weiter so!)
- Eine deutlich verstärktere Einrichtung zur Überwachung, Inspektion und Zertifizierung der Arzneimittelproduktionsbetriebe als die kleine Einheit innerhalb der Abt. 5 des LJSV = Landesamt für Jugend, Soziales und Versorgung, wenn bald die komplexe Produktion und Logistik der individualisierten Therapeutika von Biontech für den Markt anläuft.
- Ein Verkehrskonzept, das dem erwartbar höheren Transport- und Pendleraufkommen gerecht wird. Die ideologische Blockade z.B. des Ausbaus der Rheinhessenstraße, um »nicht weiteren Verkehr in die Stadt zu locken«, lässt allerdings Schlimmes erwarten.
- Einen Ausbildungspakt für Fachkräfte der Arbeitsagentur mit Uni, Hochschule und Berufsschulen, eine Ertüchtigung der diversen Schulkapazitäten und eine internationale Schule (und nicht so lange »rumeiern«, bis interessierte Investoren die Lust verlieren…).
- Und viele andere Initiativen, um das Arbeitsumfeld und die Ansiedlung zahlreicher Fachkräfte UND ihrer Familien zu befördern (Wohnungen, Umzugs-Beratung, KiTas etc.).
Will Mainz auch in der Gesundheitswirtschaft, insbesondere in der Biotechnologie, in die erste Liga kommen und sich als Standort in der globalen Pharmawelt etablieren, muss man »in die Puschen kommen« – nicht übermorgen, sondern heute!! Das mit vollem Einsatz voranzutreiben, könnte nach dem 15. Februar der/dem neuen OB ähnlichen Respekt und Ruhm einbringen wie dem legendären »Ansiedler« Jockel Fuchs. Sonst zieht die Karawane weiter, und das beschauliche Mainz kann weiter von seiner großen Historie, Römern, Erzbischöflichem Glanz und Gutenberg bis hin zu IBM und ZDF träumen – ein Albtraum! Daher aufwachen und beherzt die Defizite anpacken und die Sanierungsstaus an Schulen, Straßen und s.v.a.m. zügig abarbeiten. Die Bürger mussten lange genug hören …«dafür haben wir kein Geld…«. Anstatt sich auf vergangenen Meriten auszuruhen, gibt es jetzt die große Chance, die Zukunft aktiv zu gestalten. Ergreift sie! Rasch!
| Dr. Engelbert J. Günster