Die duale Ausbildung muss endlich der akademischen Ausbildung gleichgestellt werden – eine Voraussetzung für die Fachkräftesicherung im Handwerk.

Der Druck auf den Arbeitsmarkt sei nach Corona noch einmal massiv angestiegen, sagt Anja Obermann. Was im Handwerk seit Jahren zu beobachten ist, betrifft nun fast alle Branchen: Fachkräftebedarf ohne Ende. »In den kommenden Jahren wird dieser Bedarf schon aus demographischen Gründen weiter steigen«, weiß die Hauptgeschäftsführerin der Handwerkskammer Rheinhessen. Viele Arbeitnehmer:innen, auch im Handwerk gehen in den Ruhestand, Firmen- und Betriebs-Inhaber:innen ebenfalls. Gründe für den immensen Fachkräftebedarf gebe es viele und manches sei vermutlich durch die Veränderungen während der Lockdown-Zeiten erst richtig ins Bewusstsein gedrungen: Das Arbeitsverhalten hat sich geändert, die Menschen achteten mehr auf ihre Work-Live-Balance, mit der Folge, dass Teilzeitstellen hoch im Kurs stehen – auch bei Männern und bei Arbeitskräften, die keine Kinder zu versorgen haben.

Die Handwerksammer Rheinhessen versucht seit Jahren dem Fachkräftemangel im Handwerk entgegenzuwirken – auf allen Kommunikationskanälen. Schwerpunkt der Ansprache sind die Auszubildenden, sagt Obermann. Entsprechend sei die Abteilung »Berufsorientierung« mit zwölf Mitarbeitenden personell stark aufgestellt. »Wir gehen in die Schulen, wir haben ein individuelles Coaching-System für junge Menschen, vermitteln Praktika, bieten mit KAUSA spezielle Berufsorientierung für migrantische Gruppen an, lassen Ausbildungsbotschafter:innen im Berufe-Podcast und in der Social Media-Kampagne #machdeinhandwerk von ihren Berufen erzählen – wir sind mit all dem auf einem guten Weg, zumindest was die Azubi-Zahlen betrifft.« Aber es wird noch lange dauern, bis das zu einer Entspannung im Arbeitsmarkt führt.

Um Menschen für Handwerksberufe zu begeistern, brauche es praxisnahe Angebote: »Die jungen Menschen müssen ihre praktischen Fähigkeiten ausprobieren und Handwerk selbst erleben können«, so Obermann. Sie verweist auf den erfolgreichen »Makerspace«, der ab September in Alzey angeboten wird. Oder das Ferienprogramm der Handwerkskammer (siehe Infos). »Wer nie eine Säge in der Hand hatte, kann nicht wissen, ob sägen Spaß macht.«




Praxisnahe Angebote werden benötigt

Die Handwerkskammer sorgt für die persönliche Beratung von Auszubildenden und ausbildenden Betrieben. »Hierfür beschäftigen wir mehrere Mitarbeiter:innen, aber es macht sich bezahlt, denn wir können direkt vermitteln, wenn Azubis oder die Betriebe nicht klarkommen.« Obermann unterstreicht die Bedeutung der »Überbetrieblichen Lehrlingsunterweisung« im Berufsbildungszentrum: Hier sind die Azubis regelmäßig mit ihren Meistern zusammen und wenn was nicht gut läuft, gar der Abbruch der Ausbildung erwogen werde, könne dem entgegengewirkt werden. Manchmal helfe es schon, einen anderen Ausbildungsbetrieb zu finden, weiß Obermann, damit »die Chemie stimme«.

Die Betriebe werden von der Handwerkskammer unterstützt, geht es bspw. um die Gestaltung von Praktika. »Es braucht einen Plan und Ansprechpartner:innen, damit die Schüler:innen, die ein Praktikum in einem handwerklichen Beruf absolvieren, tatsächlich einen guten Einblick bekommen und sich für eine entsprechende Ausbildung entscheiden.« Die Handwerkskammer-Ausbildungs­bera­ter:innen begleiten die ausbildenden Betriebe auch persönlich während der Ausbildung, die Webseite der Kammer informiert über Rechte und Pflichten, Online-Seminarreihen wie »Probezeit richtig gestalten«, oder »Vom Praktikum bis zur Prüfung« helfen bei konkreten Fragen der Ausbildungsbetriebe.

Gemeinsam mit der IHK arbeitet die Handwerkskammer in verschiedenen Netzwerken auch mit Kooperationspartnern wie der Volkshochschule und der Verwaltungs- Akademie zusammen, organisiert die Berufsinformationsmesse BIM, die in diesem Jahr am 7. und 8. Oktober stattfindet, bietet Infotage an den Hochschulen für Studienabbrecher an und fördert die Verknüpfung von Studium und Beruf im »Dualen Studium«. Für die Kammer-Mitglieder werden »Werkstattgespräche« organisiert, um über aktuelle Entwicklungen in den Gewerken zu informieren und die Qualität der Ausbildung zu verbessern. »Wir müssen technologische Entwicklungen, seien es die Wärmepumpe oder E-Autos in die Ausbildung integrieren«, sagt Obermann.

Finanzielle Unterstützung

Hierbei ist auch die finanzielle Unterstützung wichtig: Auf Bundesebene gib es Förderungen für die Anschaffung moderner Technologien für die »Überbetriebliche Lehrlingsunterweisung« oder für den anstehenden Neubau des Berufsbildungszentrums in Hechtsheim, auf Landesebene z.B. für den Makerspace und das Ferienprogramm. Bleiben noch die Beratungen für Existenzgründer:innen bis hin zum Business-Plan und Infos zu den vielen Weiterbildungs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten im Handwerk.

Und trotzdem fehlen seit Jahren Azubis und Fachkräfte im Handwerk – wieso?

Die Botschaft der Kammer-Hauptgeschäftsführerin ist eindeutig: »Über viele Jahrzehnte wurden die Aufstiegsgeschichten des Studiums erzählt – aber nicht die des Handwerks, auch nicht die der dualen Ausbildung, ein Grund, warum Handwerksberufe noch immer unter einem schlechten Image leiden.« Obermann fordert, die Gleichwertigkeit der Ausbildungen sicherzustellen: »Es braucht analog zum Studi-Ticket ein Azubi-Ticket für den ÖPNV und wenn Wohnheime für Studierende staatlich gefördert werden, dann müssen auch für Azubis Wohnheime gebaut werden.« Zudem müssten in den Schulen auch praktische Inhalte vermittelt werden, z.B. in den jährlichen Projektwochen. »Wenn die Lehrer:innen dazu nicht in der Lage sind, können doch externe Kräfte einspringen.« Obermann berichtet von Gymnasien, die Infotage des Handwerks mit der Begründung ablehnten, sie würden schließlich für die Hochschulen ausbilden und in der Lehrer:innen-Ausbildung vermisst Obermann die direkten Begegnungen mit dem Handwerk.

Außerdem verwahrt sich die Hauptgeschäftsführerin gegen Ansätze, die duale Ausbildung aufzuweichen, in dem Berufsabschlüsse, die weniger Qualifikationen beinhalten, als die in der deutschen Handwerksausbildung vereinbarten, anerkannt werden und resümiert: »Wir sind überzeugt, dass die Stärke des Wirtschaftsstandorts Deutschland auch aus der qualitativ hochwertigen Ausbildung resultiert.«

| SoS

In den Sommerferien können Jugendliche
von 12 bis 18 Jahren in Workshops ihre
handwerklichen Fähigkeiten ausprobieren
www.hwk.de/ferienprogramm.

 

Fachkräftesicherung: Potenziale ausschöpfen