Aroma-Sinfonien, Farbspektakel, Terroir von altem Adel. Restaurant Tafelstein ist neu im Weingut Stallmann-Hiestand in Uelversheim.
Genuss ist nicht neu. Schon unsere Ahnen wussten, was gut ist und wo es gut ist. Im rheinhessischen Hügelland etwa, mit fruchtbaren Böden und mildem Klima. Im Mittelalter ernteten die Bauern hier saftiges Obst, Gemüse und Wein von guter Qualität. Blöd nur, dass sie das Beste für die reich gedeckte Tafel der Adelsfamilien abgeben mussten. Dafür durften sie sich »Tafelgüter« nennen. Vermutlich wurde der zum Rhein geneigte fruchtbare Weinberg zwischen Dienheim, Ludwigshöhe und Uelversheim deshalb »Tafelstein« genannt. So haben Nora und Christoph Hiestand vom Uelversheimer Weingut Stallmann-Hiestand auch ihr neues Restaurant getauft. Vor wenigen Wochen haben sie in der umgebauten Scheune am Weingut die ersten Gäste empfangen. Für Mister X die passende Gelegenheit, das neue Jahr mit einem Bericht über den jüngsten Spross rheinhessischer Tafelfreuden zu beginnen.
Küchenchef Michael Wiederstein hat für das neue Lokal ein klares Ziel: Gehoben, aber nicht abgehoben. Ganz so ist auch die Präsentation. Die schön in Szene gesetzte alte Bruchsteinmauer bekennt sich zum Standort, große Fensterflächen und lockere Bestuhlung lassen Licht und Luft herein. Ein raffiniertes Beleuchtungskonzept, hippe Lehnsessel, bequeme Stühle, harmonisch abgestimmte Farben zwischen Taupe und Beige wirken stillvoll und schaffen zwanglose Eleganz.
»Klein und überraschend«, murmelt Mister X anerkennend, als er die Speisenkarte einer gründlichen Prüfung unterzieht. Mit gut einem Dutzend Gerichten stellt der Küchenchef vier Menüs (38 bis 84 Euro) zusammen, die ihresgleichen suchen. Fleisch- und Fisch-Gourmands kommen ebenso auf ihre Kosten wie Veganer, Vegetarier und alle dazwischen. Viele der kreativen Zusammenstellungen – beispielsweise Zander, Topinambur, Apfel und Selzer Blutwurst (23 €) – würden andernorts als »Signature Gerichte« durchgehen, hier wirkt die bloße Aufzählung der Hauptzutaten einfach nur uneitel.
Während wir mit Vorfreude die Karte durchstöbern, steht schon ein saftiges Mischbrot vom benachbarten Bäcker auf dem Tisch, dazu Salzbutter. Darauf folgt der eigentliche Gruß aus der Küche: ein großer hausgemachter Raviolo, gefüllt mit getrüffeltem Pesto. Dazu ein schaumig aufgeschlagener Ziegenfrischkäse. Die Geschmacksnerven fahren vor Freude Karussell.
Aromasinfonien
Das dürfen sie auch weiterhin. Denn die Vorspeise »Thunfisch-Linse-Miso« (17 €) und der Zwischengang »Pasta-Trüffel-Ei« (24 €) entpuppen sich in aller Demut als Aromasinfonien. Die Präsentation der veganen Hauptspeise »Couscous-Mandel-Rote Beete-Wintergemüse« (21 €) gerät zum expressionistischen Farbspektakel, an dem schwarze Möhren, weißer Sellerie, feuerroter Coucous und orangeglühender Kürbis ihren Anteil haben.
Ist das durchzuhalten? Fast. Bei unserem Besuch legt eine große, vielköpfige Gesellschaft mit ihrer gleichzeitigen Bestellung aller mathematisch möglichen Menükombination die Küche lahm. Deshalb schleichen sich im zwangsläufigen Chaos am Herd bei zwei unserer Hauptgerichte handwerkliche Fehler ein. Das Fleisch der Gänsebrust des zweiten Menüs ist sehr fest, dafür die Haut weich. Und auch der Sauerbraten vom Reh (29 €) hat seine Tücke. Die gute Idee, dem eingelegten Braten noch rosa gegartes Rehfilet zuzugesellen, leidet darunter, dass das Filet auf der Unterseite hart gebraten wurde. Das Rotkraut, das zu beiden Fleischgerichten gereicht wird, lässt kaum Wünsche offen, leuchtet frisch, ist noch bissfest und punktet mit warmen Aromen von Honig, Zimt und Nelken. Bratapfel – als zartes Filet, kindheitserinnerndes Ragout und erfrischend-intensives Sorbet – schließt die Gaumenreise ab.
Was trinkt man zu solchem Essen? Im »Tafelstein« selbstverständlich nur Weine aus dem eigenen Gut. Neben dem stets präsenten professionellen Service steht auch Chefin Nora Hiestand gern beratend zur Seite, am liebsten natürlich bei der Weinauswahl. Wir haben uns bei den gut ein Dutzend offenen Weinen umgeschaut und wählen einen trockenen 2022 Chardonnay (0,2 für 6 €), einen trockenen 2022 Tafelstein Riesling (7 €) und einen trockenen 2021 Trepino (8 €), das ist eine Cuvée aus Weißburgunder, Grauburgunder und Chardonnay. Präsentiert sich der Chardonnay noch mit eleganter Zurückhaltung und lässt dem Essen den Vortritt, zeigt die Burgunder-Cuvée selbstbewusst, was in der Rebsorten-Familie an Rafinesse und Rasse steckt und leuchtet dabei mit einem ungewöhnlichen blassen Lachston.
Ausgezeichneter Riesling
Eine Wucht ist der junge Riesling, ein Füllhorn von gelben und weißen Früchten, gezähmt von einem perlenden Säurespiel. Dieser Tropfen erklärt mühelos, warum die alten Rittersleut sein Terroir vor einem halben Jahrtausend zum »Tafelstein« erhoben haben. Die wussten, was gut ist.
| Lou Kull
ESSEN | 8,75 |
TRINKEN | 9,0 |
SERVICE | 8,0 |
AMBIENTE | 9,0 |
PREIS/LEISTUNG | 9,0 |
GESAMT | 43,75: 5 = 8,8 KAPPEN |
Fazit
Mit der Eröffnung ihres Restaurants »Tafelstein« haben Nora und Christoph Hiestand den Rheinhessen und ihren Gästen ein schönes neues Genuss-Zuhause und ihren ohnehin schon reputierlichen Weinen eine fast perfekte Präsentationsfläche gegeben. Dass eine zu groß geratene Gesellschaft mit à la carte-Bestellung das Zahnradwerk der Küche aus dem Rhythmus bringt, wird so nicht mehr passieren, versichern die Gastgeber (deshalb ausnahmsweise in der Bewertung die Zwischenstufe 8,75). Ohnehin bemerkenswert, wie das Tafelstein bei unserem Besuch eine Woche nach der Eröffnung schon auf einem sehr hohen Niveau angekommen ist. Diese Küche wird von sich reden machen. Und das zu einem erfreulichen Preis-Leistungs-Verhältnis.