Martin Schmidt, Sportdirektor des 1. FSV Mainz 05, spricht im Interview mit dem MAINZER über seine zweite Heimat, den neuen Kader und alte Fußball-Probleme.

Der Schweizer Fußballtrainer Martin Schmidt kam 2010 nach Mainz, coachte hier zunächst fünf Jahre die zweite Mannschaft und stieg mit ihr 2014 in die 3. Liga auf. Anfang 2015 übernahm er von Kasper Hjulmand das Profi-Team, qualifizierte sich mit ihm für die Europa League, verließ den Verein dann aber vorzeitig nach Ende der Saison 2016/2017. Nach Trainerposten in Wolfsburg und Augsburg kam er im Dezember 2020 gemeinsam mit Christian Heidel und Bo Svensson zurück zum 1. FSV Mainz 05, übernahm den neugeschaffenen Posten des Sportdirektors und schaffte mit dem Team das »Wunder von Mainz« – den kaum noch für möglich gehaltenen Klassenerhalt in der Saison 2020/2021. Am 12. Juli, kurz vor der Fahrt ins Trainingslager, besuchte ihn der MAINZER im Bruchwegstadion und stellte ihm Fragen zu seiner Arbeit, der Zukunft des Vereins und seinem Verhältnis zu Mainz.

MAINZER: Herr Schmidt, Sie wurden neulich als »Mann mit 05-DNA« bezeichnet und sagen von sich selbst »Mainz ist meine zweite Heimat geworden«. Wie macht sich diese spezielle DNA bemerkbar und wann wurde Ihnen klar, dass Mainz Ihre zweite Heimat ist?

Martin Schmidt: Wenn ich mich dabei ertappe, im Kollegenkreis immer öfter von »heimfahren« spreche, wenn ich nach Mainz zurückfahre. Das mit der DNA wird dir auch klar, wenn du dich in der täglichen Arbeit wohl fühlst und merkst, dass die Menschen dich nicht nur wegen deiner Rolle im Verein auf der Straße grüßen, sondern dich auch als Mensch wahrnehmen. Beim Johannisfest wurde mir das wieder bewusst. Wir hatten mit den Trainern einen Tisch auf dem Domplatz und viele Fans kamen vorbei, um uns zu grüßen und »Hallo« zu sagen.

Die Mainzer Lebensart – fröhlich und locker – ist auch ein Grund dafür, dass ich mich hier zu Hause fühle. Fastnacht mache ich, wenn möglich immer mit, das kenne ich aus meiner Schweizer Heimat und auf ein Kaffee in der Altstadt freue ich mich auch immer.

Können Sie denn noch unerkannt und in Ruhe ein Pils trinken?

Martin Schmidt: (lacht) Tagsüber beim Kaf­fee werde ich nicht so oft angesprochen, abends zu später Stunde dann schon öfter. (schmunzelt) Das liegt aber eher daran, dass mich viele noch als »Trainer« von früher kennen.




Dann erklären wir es den Fans doch einfach nochmal. Was sind eigentlich die genauen Aufgaben eines Sportdirektors? Man hat als Laie dabei immer nur das Stichwort »Transfers« im Kopf. …oder man sieht mich im Fernsehen bei den anschließenden Spielanalysen. Aber meine Aufgaben sind in Wirklichkeit viel umfangreicher.

Ich bin nicht nur in die Spielertransfers und Kaderplanung, sondern auch in alle Personalentscheidungen rund um den sportlichen Bereich eingebunden – von den Trainern bis zum Materialwart. Dazu kommen Entscheidungen zur Infrastruktur, zu Trainingslagern, zu Testspielen. Also sozusagen das Bindeglied zwischen dem Fußball-Geschehen auf dem Platz und Sport-Vorstand Christian Heidel.

Nach 1½ Jahren zeichnen sie mitverantwortlich für das »Wunder von Mainz« (2020/2021) und die viertbeste Saison in der Vereinsgeschichte (2021/2022). Was wird ihre dritte Saison in Mainz bringen? Dürfen die Fans das Wort »Europa« in den Mund nehmen oder gilt nach wie vor die Devise »Klassenerhalt und sehen was dann kommt«.

Die Mannschaft entwickelt sich unter Bo Svensson systematisch weiter. Er musste zu Beginn an einigen Stellschrauben drehen und führte das Team mit einer tollen »Champions League Rückrunde« aus dem Abstieg. [Mainz 05 wurde Vierter der Rückrunde]

Bo hat dann im Sommer 2021 wieder einige Veränderungen vorgenommen und wir konnten die letzte Saison auf Platz acht abschließen. Und auch jetzt mussten wir im Team wieder einige punktuelle Kaderanpassungen vornehmen. Ich bin sicher, dass Bo mit seinem Trainerteam die Entwicklung weiter vorantreibt und wir eine solide Saison spielen werden – und träumen darf man immer!

Kommen wir zu den aktuellen Themen. Das inzwischen stattgefundene Freundschaftsspiel gegen Newcastle United wurde von den Fans heftig kritisiert. Unten am Zaun hängt ein Transparent mit der Aufschrift »Werte verraten – das Leitbild begraben.« Die ganze Diskussion rund um dieses Spiel hat zu einer Reihe von Gesprächen zwischen Vorstand und Fans geführt. Und natürlich wurden alle Beteiligten dadurch auch entsprechend sensibilisiert. Hier war der Dialog zwischen allen Beteiligten sehr wichtig. Stefan Hofmann hat sich einige Tage vor dem Spiel mit der Fanabteilung getroffen. Beide Seiten haben ihre Sichtweisen dargestellt.

Sportlich ist es so, dass wir vor dem Saisonstart nur wenige Spiele haben, in denen wir unsere Neuzugänge und Nationalspieler einsetzen können und es war aus sportlicher Sicht sehr wichtig, dafür einen passenden Gegner zu bekommen. Newcastle United ist ein starker englischer Traditionsclub aus der Premier League, der hier genau passte und uns auch maximal gefordert hat. Eine Absage war so kurz vor dem Spiel nicht mehr möglich. Es ist nicht immer einfach, Gegner auf höchstem Niveau für Testspiele zu bekommen.

Wir müssen uns in der Zukunft mit der Frage auseinandersetzen, wie wir mit solchen politischen Themen umgehen. Denn inzwischen stehen hinter vielen Vereinen und
Unternehmen Staatsfonds wie die Saudi-
Arabische PIF.

Gehen wir über die saudische Grenze nach Katar. Einige Fans wollen die dortige WM boykottieren, andere stellen sich auf »Public Viewing mit Glühwein« ein. Sie haben einen völlig neuen, sportlichen Aspekt in einem Interview angedeutet.

Dass wir uns richtig verstehen: Ich habe nie versucht, diese Weltmeisterschaft oder einige Aspekte von ihr komplett schön zu reden. Zu den dortigen Menschenrechtsverletzungen haben sowohl der DFB als auch der 1. FSV Mainz 05 schon deutlich Stellung bezogen. Wichtig wird während der WM zudem sein, politische Statements zu setzen und unter dem Brennglas der Öffentlichkeit damit Zeichen zu setzen und gegen Missstände aufmerksam zu machen

Mir geht es um einen rein sportlichen Aspekt: Welt- und Europameisterschaften finden meist im Sommer, also am Ende einer langen Saison statt. Die besten Spieler der Welt, die mit ihren Teams in den Bereich Viertel- oder Halbfinale vorstoßen, haben zu dieser Zeit meist schon 60-70 Spiele absolviert und sind entsprechend müde – vielleicht auch nicht mehr ganz hundertprozentig motiviert. Wir werden an dieser WM Spieler erleben, die in absoluter Topform sind, weil sie mitten in den nationalen Meisterschaften stehen. Das wird mit Sicherheit sportlich sehr interessant und fußballerisch eines der besten Großturniere werden.

Bleiben wir noch kurz bei der Weltmeisterschaft. Wie glauben Sie, wird die deutsche Nationalmannschaft abschneiden?

Wir haben in den letzten 12 Monaten eine Mannschaft mit zwei Gesichtern gesehen. Ich bin überzeugt, dass Hansi Flick das Team im Winter in Topform präsentieren kann. Deutschland ist eine Turniermannschaft. Ein Einzug in das Viertel- oder Halbfinale sollte in jedem Fall möglich sein.

Werden wir dann auch einen oder mehrere Mainzer Spieler im Nationaltrikot sehen?

Das hoffen wir natürlich, aber die Antwort hängt von vielen Umständen ab. So ist es zum Beispiel wichtig, dass der eine oder andere potentielle Nationalspieler einen guten Saisonstart hat – und natürlich: Gesund bleibt.

Ich würde mit Ihnen noch gerne einen Blick auf den aktuellen Transfermarkt werfen. Vorab aber eine andere Frage: Bayern München wollte einen 14-jährigen Mainzer Spieler abwerben. Der Vater hat unter der Bedingung zugestimmt, dass auch seine beiden jüngeren Söhne zu dem Verein wechseln können – er selbst erhält dort eine Stelle als Trainer. Was halten Sie davon?

Das sind leider keine Einzelfälle mehr. Vierzehnjährige stehen mittlerweile auch schon überregional unter der Beobachtung von Scouts. In diesem Fall kam noch dazu, dass auch die beiden neun und zwölf Jahre alten Brüder auf Wunsch des Vaters mit abgeworben wurden. Das kann nach außen schon seltsam wirken, ist aber nach den Regularien so umsetzbar. Natürlich hätten wir die drei Jungs gerne weiter hier bei Mainz 05 behalten und ausgebildet, aber die Eltern haben sich anders entschieden. Wir hoffen für die Familie, dass sich die Kinder in der neuen Umgebung schnell eingewöhnen und wünschen ihnen viel Erfolg.

Sie haben neulich gesagt, dass wir einen perfekt abgerundeten Kader haben.

Den haben wir mittlerweile. Wir stehen qualitativ in der Spitze, wie auch in der Breite gut da und könnten morgen Bundesliga spielen. Der Kader scheint nicht nur ausgewogen, sondern auch hungrig zu sein.

Einige Fans schauen etwas beunruhigt auf die Innenverteidigung.

Das müssen sie nicht. Moussa Niakathé hat uns zwar leider Richtung Nottingham Forest verlassen. Für ihn haben wir jedoch schon im Vorgriff Maxim Leitsch vom VfL Bochum verpflichtet. Neu dabei ist auch Anthony Caci, ein flexibler Außenbahn- & Defensivspieler, der von Racing Straßburg kam und hinten alle Positionen spielen kann. Und denken sie an die etablierten Spieler wie Stefan Bell, Alexander Hack und unser Talent Niklas Tauer.

Für das Mittelfeld hat heute jemand unterschrieben, an dem auch Borussia Mönchengladbach und Benfica Lissabon Interesse hatten.

Wir haben einen Nachfolger für Jean-Paul Boëtius gesucht und gefunden: Angelo Fulgini spielte zuletzt bei Angers SCO in der Ligue 1 und hat von uns einen Vierjahresvertrag
erhalten. Er ist ein kreativer Spieler, der im Spiel auch mal den Unterschied ausmachen kann – und zudem noch einen torgefährlicher Zehner darstellt.

Ist es Zufall, oder schaut sich Mainz 05 bewusst verstärkt auf dem französischen Transfermarkt um?

Frankreich ist ein spannender Markt. Die dortigen Spieler sind technisch top ausgebildet, passen perfekt zu unserer Spielweise und können sportlich direkt integriert werden. Sie brauchen kein halbes Jahr wie Spieler aus kleineren Ligen, bis sie nach einem Wechsel auf ihrer Leistungshöhe sind bzw. sich an das neue Tempo angepasst haben.

Zurück zur neuen Saison. Sie haben uns zu Beginn schon Hoffnungen auf eine gute Saison 2022/2023 gemacht. Wie tippen Sie denn unsere beiden ersten Pflichtaufgaben – das Pokalspiel in Aue und den Saisonauftakt in Bochum?

Unser Kader ist gut aufgestellt. Wir sollten daher für die erste Pokalrunde beim Drittligisten Aue bestens vorbereitet sein. Darüber hinaus will jeder Spieler das erste Pflichtspiel gewinnen. Im Pokal, wie auch in der Meisterschaft.

Wir bedanken uns vielmals, dass Sie an diesem ereignisreichen Tag noch Zeit für uns hatten.

| mdl