Wer heute älter als 60 Jahre ist, hat die Kampagne erlebt: »Schutzimpfung ist süß,«, hieß es damals, »Kinderlähmung grausam«. Bilder der Eisernen Lungen, in denen Polio-Opfer jahrelang liegen mussten, und die Epidemie von 1961, die 3300 Menschen lähmte und 272 Tote forderte, schockierten die Deutschen – sie ließen sich freiwillig impfen. Heute aber haben viele schwere Krankheiten ihren Schrecken verloren, weil sie niemand mehr aus eigenerer Anschauung kennt. Eine fatale Sorglosigkeit mache sich breit, warnen Ärzte und die WHO verweist auf die hochansteckenden Masern: Wenn sich nicht mehr Menschen pieksen lassen, drohe ein Rekordanstieg der Maserntoten in Europa.
Fakt ist, dass in Deutschland seit Jahren die Impfmüdigkeit um sich greift. Nach einer aktuellen Studie der Barmer Ersatzkasse sind offenbar weniger als 90 Prozent der Schulanfänger geimpft. Bei den Kleinkindern, so heißt es, sähe es noch deutlich schlechter aus. Für einen wirksamen Schutz der Gesellschaft aber sind Immunisierungsraten von mindestens 95 Prozent nötig.
Neuer Gesetzesentwurf
Weil alle Appelle der letzten Jahre nicht viel halfen, brachte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn jetzt einen Gesetzesentwurf auf den Weg. Er sieht unter anderem vor, dass Kinder eine vollständige Masernimpfung nachweisen müssen, bevor sie einen KITA-Platz erhalten oder eingeschult werden. Eltern, die das verweigern, sollen zur Kasse gebeten werden. Das Kabinett hat das Gesetz Mitte Juli verabschiedet, wenn auch der Bundestag zustimmt, soll es 2020 in Kraft treten.
Die Impfpflicht – ein emotional aufgeladenes Thema. Radikalen Impfgegnern ist oft mit Argumenten nicht beizukommen, Verschwörungstheorien machen die Runde. Viele Kritiker aber bestreiten nicht den Sinn des Impfens, wehren sich nur gegen den staatlichen Zwang. Gewiss: Eine Impfpflicht berührt das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Sie greift in das elterliche Erziehungsrecht ein und kann auch die Religionsfreiheit tangieren.
Keine Privatsache
Aber Impfen ist eben keine Privatsache. Wer die eigenen Kinder nicht impfen lässt, bringt nicht nur sie in Gefahr, sondern auch andere – vor allem Säuglinge. Die UN-Kinderrechtskonvention sichert den Schwächsten der Gesellschaft ein Grundrecht auf Gesundheit zu. Mit dem neuen Gesetz, so sagen die Befürworter, nimmt der Staat seine Wächterfunktion wahr. Zum Wohle der Kinder.
| MW